Front Line Defenders (FLD) sieht die Delegitimitierung sechs führender, palästinensischer, zivilgeselschaftlicher Organisationen als Terrororganisationen als einen erneuten Versuch den Ruf dieser Organisationen zu schädigen und sie von ihren Partnern und Solidaritätsnetzwerken zu isolieren. Dies passiert im Rahmen einer eine systematische Kampagne zur Überwachung, die darauf abzielt, die Geräte von palästinensischen Menschenrechtsverteidiger*Innen und Anwält*Innen zu infiltrieren. Die sechs betroffenen palästinensischen Organisationen sind: Addameer Prisoner Support and Human Rights Association, Al-Haq Law in the Service of Man (Al-Haq), Bisan Center for Research and Development, Defense for Children International-Palestine, die Union of Agricultural Work Committees und die Union of Palestinian Women's Committees.
Die Überwachung von Geräten von Menschenrechtsverteidiger*Innen und Anwält*Innen verletzt nicht nur deren Persönlichkeitsrechte, sondern auch die der zahllosen Menschen, die in irgendeiner Form mit ihnen in Kontakt standen. Die sechs Organisationen verurteilen diese willkürlichen, unterdrückerischen und beunruhigenden Enthüllungen aufs Schärfste und fordern eine entschlossene Reaktion einschließlich konkreter Maßnahmen seitens der internationalen Gemeinschaft.
Pegasus Spyware-Überwachung von palästinensischen Menschenrechtsverteidigern
Am 16. Oktober 2021 wandte sich Al-Haq wegen des Verdachts, dass das iPhone eines seiner Mitarbeiter mit Spyware infiziert sei an FLD . Die technische Untersuchung von FLD ergab, dass das Gerät im Juli 2020 mit der von der israelischen NSO Group vertriebenen Spyware Pegasus infiziert worden war. Weitere forensische Untersuchungen - durch Citizen Lab und dem Security Lab von Amnesty International - von 75 iPhone-Geräten palästinensischer Menschenrechtsverteidiger*Innen und Mitarbeiter*Innen zivilgesellschaftlicher Organisationen ergaben, dass mindestens fünf weitere Geräte angezapft wurden. Darunter waren Geräte von Ghassan Halaika, Feldforscher bei Al-Haq in Jerusalem, Ubai Al-Aboudi, Geschäftsführer des Bisan-Zentrums für Forschung und Entwicklung, und Salah Hammouri, Anwalt und Menschenrechtsverteidiger.
"Wenn Pegasus auf dem Telefon einer Person installiert ist, hat der Angreifer vollständigen Zugriff auf die Nachrichten, E-Mails, Medien, das Mikrofon, die Kamera, Passwörter, Sprachanrufe über Messaging-Apps, Standortdaten, Anrufe und Kontakte des Telefons. Die Spyware hat auch das Potenzial, die Telefonkamera und das Mikrofon zu aktivieren und die Anrufe und Aktivitäten einer Person auszuspionieren." (FLD, 8. November 2021).
Eine gemeinsame Untersuchung von FLD, Citizen Lab und dem Security Lab von Amnesty International bestätigte, dass die Infektion von der Pegasus Spyware der israelischen NSO Group ausging. Diese wird als Massenüberwachungsinstrument eingesetzt, um Menschenrechtsaktivist*Innen, Anwälte*Anwältinnen, Journalis*Innen und politische Persönlichkeiten ins Visier zu nehmen und ihre systematische Unterdrückung zu erleichtern. Dies wurde durch das globale Pegasus-Projekt aufgedeckt, das im Juli 2021 mehr als 50.000 Telefonnummern analysierte. Nach diesen desaströsen Enthüllungen des Pegasus-Projekts behauptete die NSO-Gruppe ironischerweise, dass die Pegasus-Spionagesoftware nur von staatlichen Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden zur Terrorismusbekämpfung und Verbrechensbekämpfung eingesetzt werde.
Am 3. November gab das US-Handelsministerium bekannt, dass es die NSO Group auf seine "Entity List" gesetzt hat und damit das Unternehmen faktisch sanktioniert und verboten hat. Dies geschah mit der Begründung, dass "diese Mittel auch ausländischen Regierungen ermöglicht haben, grenzüberschreitende Unterdrückung zu betreiben und solche Praktiken die regelbasierte internationale Ordnung bedrohen". Vereinbarungen mit den Vereinigten Staaten und Frankreich, deren Bürger nicht zu überwachen wurden von dem Unternehmen im Fall von Ubai Al-Aboudi und Salah Hammouri nacheinander gebrochen.
„Shrinking Spaces“, Verletzung unseres Rechts auf Privatsphäre
Am 19. Oktober deisgnierte der israelische Verteidigungsminister, mit Berufung auf das israelische Anti-Terrorismus-Gesetz 5776-2016, sechs Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft als "Terrororganisationen". Zwei Wochen später, am 3. November, erließ der israelische Militärbefehlshaber im Westjordanland fünf separate Militärbefehle, in denen die Organisationen als „ungesetzlich" im Sinne der „Defence (Emergency) Regulations“ von 1945 designiert wurden. Diese Gesetzeslage wurde von Großbritannien kurz vor Ende des Mandats aufgehoben wurden und später von Israel rechtswidrig wiederbelebt, um zahlreiche Verfolgungsmaßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung durchzuführen.[1]
Diese Ankündigung, mit der die essenzielle Arbeit der palästinensischen Organisationen verboten wird, bringt eben jene Organisationen in die unmittelbare Gefahr einer gewaltsamen Schließung und und ermöglicht, dass ihre Mitarbeiter*Innen willkürlich verhaftet werden. Darüber hinaus ist sie Teil einer alarmierenden Offensive, die beabsichtigt die Bemühungen der Organisationen zur Verwirklichung der palästinensischen Menschenrechte zu kriminalisiert und zu delegitimiert. Wichtige Arbeit wird diskreditiert, um die Organisationen von der internationalen Gemeinschaft zu isolieren und schließlich ihre Finanzierungsquellen zu kappen. In der Praxis ermächtigen die gegen die palästinensischen Organisationen erhobenen Vorwürfe Israel dazu, ihre Büros zu schließen, ihr Vermögen, einschließlich ihrer Bankkonten, zu beschlagnahmen und ihre Mitarbeiter*Innen zu verhaften.
Die parallelen Zeitabläufe der FLD-Untersuchung und der israelischen Designierung sind besorgniserregend. Diese Designierung der zivilgesellschaftlichen Organisationen durch den israelischen Verteidigungsminister nur wenige Tage nach Beginn der Untersuchungen könnte ein vorbeugender Versuch sein, Beweise für die Überwachung zurückzuhalten und heimliche Spionageaktionen zu vertuschen.
Die systematische Überwachung palästinensischer Menschenrechtsverteidiger*Innen ist Teil einer bereits endlosen Liste von koordinierten Aktionen, die von israelischen Regierungsstellen und ihren Partnern durchgeführt werden, um organisierte Verleumdungs-, Einschüchterungs- und Verfolgungskampagnen gegen die palästinensische Zivilgesellschaft anzutreiben. Zu diesen Methoden gehörten in den vergangenen Jahrzehnten Verleumdungskampagnen, die darauf abzielten, Menschenrechtsverteidiger*Innen als "Terroristen" abzustempeln, Aufstachelung zu Rassenhass und Gewalt, Hassreden, willkürliche Verhaftungen, Folter und Misshandlungen, Todesdrohungen, Reiseverbote, Aufenthaltsverbote und Abschiebungen.
Im Februar 2019 legte Al-Haq dem UN-Sonderberichterstatter für die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung einen Bericht über Israels Überwachungsindustrie vor. Der Bericht deutete auf die von „Elbit Systems“ betriebenen Überwachungsanlagen an der Apartheidmauer, das Überwachungsprojekts „Mabat 2000“ in der Altstadt von Jerusalem und damit auf die Verflechtungen zwischen dem israelischen Militär und der privaten israelischen Überwachungsindustrie hin. Darüber hinaus wurde der alarmierende Einsatz von der Pegasus-Spionagesoftware zur Unterdrückung von Menschenrechtsverteidiger*Innen in verschiedenen Ländern, darunter Bahrain, Kasachstan, Mexiko, Marokko, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emirate, angesprochen.
Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger*Innen, ein Grundpfeiler des israelischen Apartheidregimes
Als Vertragsstaat des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) ist Israel gemäß Artikel 19 dazu verpflichtet das Recht eines*einer jeden Person auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit zu schützen. Außerdem ist Israel dazu verpflichtet das Recht eines*einer jeden zu schützen sich Informationen und Ideen aller Art zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, ohne Rücksicht auf Grenzen oder Wahl der Medien. Das Recht auf Meinungsfreiheit wird auch durch Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Artikel 5 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung gewährleistet.
Desweiteren besagt Artikel 17 Absatz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte: "Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein*ihr Privatleben, seine*ihre Familie, seine*ihre Wohnung oder seinen*ihren Briefwechsel ausgesetzt werden". In Hinsicht auf Überwachung hat der UN-Menschenrechtsausschuss gewarnt, dass "Angriffe auf eine Person wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung nicht durch Artikel 19 (3) gerechtfertigt werden können", und hat die Bedeutung des Schutzes von "Personen, die Informationen über die Menschenrechtslage sammeln und analysieren und Berichte über die Menschenrechte veröffentlichen, einschließlich Richtern*RichterInnen und Rechtsanwälten*Rechtsanwältinnen" unterstrichen.[2] Die Verpflichtung der Staaten, unter anderem Menschenrechtsverteidiger*Innen vor Eingriffen Dritter zu schützen, ergibt sich aus Artikel 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), der die Staaten verpflichtet, die im Pakt anerkannten Rechte zu achten und allen Personen, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten und ihrer Rechtsprechung unterliegen, diese Rechte zu gewährleisten. Artikel II (c) der Apartheid-Konvention verbietet das Verbrechen der Apartheid, definiert als "alle gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen, die darauf abzielen, eine oder mehrere ethnische Gruppen an der Teilnahme am politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes zu hindern, insbesondere dadurch, dass den Mitgliedern einer oder mehrerer etnischer Gruppen die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten verweigert werden, einschließlich des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung und des Rechts, sich friedlich zu versammeln und zusammenzuschließen".
Unternehmen agieren nicht in einem menschenrechtsfreien Raum. In den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte werden die Schutzpflichten der Staaten und die Verantwortung der Unternehmen für die Achtung der Menschenrechte im Rahmen der Unternehmenstätigkeit kodifiziert. Insbesondere müssen Unternehmen "ihrer Größe und ihren Verhältnissen angemessene Richtlinien und Verfahren einführen, darunter: (b) eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht, um ihre Auswirkungen auf die Menschenrechte zu identifizieren, zu verhindern, abzumildern und darüber Rechenschaft abzulegen", wie es in Grundsatz 15 heißt. Insofern erfordert die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht gemäß den Grundsätzen 17 bis 21, dass das Unternehmen eine ordnungsgemäße und regelmäßige Bewertung der Auswirkungen auf die Menschenrechte vornimmt, darüber berichtet und sie in den Verhaltenskodex des Unternehmens aufnimmt. In Konfliktgebieten wird diese Sorgfaltspflicht weiter verschärft. Israel ist daher verpflichtet, Unternehmen wie die NSO Group, die unter dessen Gerichtsbarkeit stehen, daran zu hindern, bei der Überwachung palästinensischer Menschenrechtsverteidiger*Innen in den besetzten Gebieten schwere Menschenrechtsverletzungen zu begehen.
#StandWithTheSix, bevor sie zu Hunderten werden
Es ist höchst besorgniserregend, dass zwei Wochen nach der gemeingefährlichen Einstufung von sechs palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen als "terroristische Organisationen" die grundlegenden Freiheiten von sechs palästinensischen Menschenrechtsverteidiger*Innen durch Überwachungspraktiken verletzt wurden. Diese Überwachung beinhaltete alle Aspekte ihres Privat- und Berufslebens und das Leben all jener, für die sie sich einsetzen, sowie jegliche Kommunikation mit internationalen und nationalen Beamt*Innen, Journalist*Innen, Anwälten*Anwältinnen und Kolleg*Innen. Diese jüngste Enthüllung zeigt einmal mehr das Ausmaß des israelischen Versagens bei der Regulierung einer privaten Überwachungsindustrie in ihrem Hoheitsgebiet, welche Menschenrechte verletzt und ungestraft agieren kann. Diese Immunität ist ein globales Menschenrechtsproblem, das eine vereinte globale Reaktion der gesamten internationalen Gemeinschaft erfordert.
Angesichts der enormen Gefahr des vielschichtigen Eindringens der Pegasus Spyware in die Privatsphäre palästinensischer Menschenrechtsverteidiger*Innen fordern die sechs Organisationen die internationale Gemeinschaft dringend auf, alle Opfer dieser Spyware-Überwachungsinfiltration sofort zu schützen und jegliche weitere Spyware-Infiltration unverzüglich zu beenden.
Darüber hinaus fordern wir die internationale Gemeinschaft auf, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um Israel, den Heimatstaat der Pegasus Spyware, dazu zu bringen, seine völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten, insbesondere:
- Ein sofortiges Moratorium für den Verkauf, die Weitergabe und den Einsatz aller Formen von Überwachungstechnologie, insbesondere der Pegasus-Spyware der NSO Group, durchzusetzten;
- Eine vollständige, unabhängige Untersuchung ihrer Tätigkeit in Palästina durch die Vereinten Nationen durchzuführen, um das Ausmaß ihrer Überwachungsaktivitäten gegen palästinensische Menschenrechtsverteidiger und ihrer Verbindungen zur israelischen Regierung zu ermitteln;
- eine vollständige Überprüfung der israelischen Unternehmen, die Überwachungsausrüstung herzustellen und eine Ermittlung ihrer Verbindungen zu den israelischen Regierungsstellen sowie ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen in Palästina und weltweit durchzuführen;
- die Ausarbeitung und Umsetzung eines strengen Rechtsrahmens zu fordern, um die negativen Auswirkungen der Überwachungsindustrie auf die Menschenrechte zu verhindern und wiedergutzumachen und die Einhaltung und Konformität der Industrie mit den internationalen Menschenrechtsgesetzen zu gewährleisten, insbesondere mit dem Grundsatz der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht, der in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verankert ist.
Die sechs Organisationen wenden sich an:
- Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, das über Unternehmen, die mit israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten zusammenarbeiten, Bericht erstatten soll und sie in die UN-Datenbank für Geschäftsaktivitäten aufnehmen soll;
- alle Staaten, ihre Geschäftsvereinbarungen über Waffen und Überwachungsausrüstung mit Israel unverzüglich einzufrieren und von Israel zu verlangen, dass es über seine Verbindungen zu seiner Überwachungsindustrie Bericht erstattet;
- die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs, die Überwachung von palästinensischen Menschenrechtsverteidiger*Innen in ihre laufenden Ermittlungen zur Lage im Staat Palästina einbeziehen soll, da dies ein Mittel zur Verfolgung von Aktivisten und Kritikern ist, die sich dem Apartheidregime widersetzen;
- Menschenrechtsverteidiger*Innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft ähnliche Spionageoperationen weltweit aufzudecken und zur Rechenschaft zu ziehen.